Avogadros Hypothese und das fundamentale Problem der Physik: Das Atomos-Paradigma

Daltons Atome, Avogadros Moleküle und der Teilungsprozess während chemischer Reaktionen. Avogadros Hypothese zum 200. Jahrestag als molekulare Zellteilung neu interpretiert und kommentiert von Mario Wingert (2011)


"Junge akademische Wissenschaftler haben die besten Erfolgsaussichten, wenn sie ältere Wissenschaftler mit technisch hübschen Lösungen beeindrucken... Das Gegenteil zu tun - tief und unabhängig zu denken und zu versuchen, eigene Ideen zu formulieren - ist eine schlechte Erfolgsstrategie. Aus diesem Grund ist die Physik nicht in der Lage, ihre Schlüsselprobleme zu lösen."

"Das Einzige, worüber sich alle, die sich für die Grundlagen der Physik interessieren, einig zu sein scheinen, ist, dass neue Ideen benötigt werden.... Uns entgeht etwas Großes..... Offensichtlich muss jemand (erst) .... eine falsche Annahme erkennen, die wir alle gemacht haben...."

Lee Smolin: The Trouble with Physics, 2006


Daltons Atomkonzept (1803/1810) und Avogadros Hypothese (1811) gelten noch heute, zweihundert Jahre später, als fundamentale Stützen der Atomhypothese. Die Atomhypothese beruht auf der naturphilosophischen Annahme, dass sich die physikalischen Eigenschaften der Natur letztendlich auf kleinste, unteilbare Bausteine der Materie und zwischen ihnen wirkende Kräfte reduzieren lassen. Diese Annahme (atomos - das Unteilbare) ist bereits 2500 Jahre alt und geht auf Demokrit zurück. Sie wurde 1810 von Dalton für die physikalische Chemie neu belebt, wurde in der Physik aber erst einhundert Jahre später, um 1910, allgemein akzeptiert, hauptsächlich durch die Arbeiten von Perrin und Einstein. Sie waren in der Lage zu zeigen, dass die Materie eine molekulare Struktur haben muss. Das Atomkonzept - die Annahme der Unteilbarkeit - war damit noch nicht bewiesen, aber die Molekültheorie der Chemie schien so fest mit der Atomhypothese verbunden, dass dies beinahe als Beweis für die Existenz von Atomen wahrgenommen wurde.

Weitere 100 Jahre später (2010) erscheint die Atomhypothese so sicher und experimentell eindeutig begründet, dass sie die Rolle eines Paradigmas spielt, das scheinbar kaum noch sinnvoll in Frage gestellt werden kann. Im Allgemeinen führt ein Paradigma dazu, dass physikalische Vorstellungen, Modelle und Theorien so angelegt und interpretiert werden, dass sie mit diesem Paradigma kompatibel sind. So ordnen sich auch die kinetische Theorie der Wärme, die Molekulartheorie und die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik in diesen Rahmen ein, obwohl sie mit der Atomos-Hypothese nicht wirklich kompatibel sind, wie Avogadros Originalhypothese und Doppelspaltexperimente mit einzelnen Atomen und Teilchen zeigen.

Obwohl schon Ende des 19. Jahrhunderts klar wurde, dass Atome in Wirklichkeit teilbar sind, wurde die Atomhypothese nicht aufgegeben. Statt dessen wurde sie immer wieder auf neue, kleinere und nun hoffentlich endgültige „Atome“ übertragen, "Elementarteilchen" genannt. So gelten zum Beispiel Elektronen und Photonen noch heute als unteilbar, in manchen Fällen auch noch das Atom, speziell im Doppelspaltexperiment. Tatsächlich beweist dieses Experiment jedoch, dass das Paradigma der Unteilbarkeit auf die Elementarstrukturen der Natur und Realität nicht zutreffen kann, denn es zeigt eine Interferenzbedingung, die besagt, dass die postulierten unteilbaren Teilchen oder räumlich konzentrierten Energieportionen (beides wird Teilchen genannt - und auch so gedacht) theoretisch und praktisch beide Öffnungen gleichzeitig passieren müssen. Sie müssen sich dabei also teilen und im Zuge der Absorption lokal wieder miteinander verschmelzen. Das bleibt im atomistischen und mechanistischen Weltbild vollkommen unverständlich, denn dieser Teilungsprozess widerspricht der Atomhypothese und kann wegen der ganzheitlich-lokalen Absorption der ausgesendeten Energiemenge (Quantum genannt) auch nicht mehr im Sinne der Mechanik als Zerfall in separate Einzelteile verstanden werden. Nimmt man diese Interferenzbedingung physikalisch ernst, scheitert die Atomhypothese, also die Annahme der Unteilbarkeit, nachweisbar im Experiment.

Obwohl das Experiment damit eindeutig eine physikalische Erklärung verlangt, in der sich „Atome“ und „Elementarteilchen“ nicht-mechanisch, also ganzheitlich teilen müssen (was eine völlig neue Feldstrukturphysik erfordert), wird eine solche Erklärung und Modellierung des Doppelspaltexperiments von der Quantenmechanik ganz bewusst nicht nur nicht gegeben, sondern als Lösungsmöglichkeit prinzipiell ausgeschlossen - eben weil eine physikalisch widerspruchsfreie Erklärung des Experiments weder mit der Atomos-Hypothese noch mit dem Wellenmodell möglich ist (das Wellenmodell kann zwar die Passage des Doppelspalts, aber nicht die Wiedervereinigung erklären). Normalerweise würden wir aus dem Experiment also schließen, dass beide Modelle der Beschaffenheit der Realität versagen und falsch sein müssen, also ein neues Modell entworfen werden muss. Doch genau das hält die vorherrschende Interpretation weder für möglich, noch für nötig. Diese Sicht- und Behandlungsweise des grössten Problems der theoretischen Physik lässt sich weder experimentell noch theoretisch begründen; sie ist also nur eine problemvermeidende Interpretation, die letztlich versucht, das herrschende atomistische Paradigma und das Wellenmodell wider besseren Wissens als "nützlich" zu retten. Sie wurde 1927 von Bohr, Heisenberg und Born gegeben und als quantenmechanische Deutung der Quantentheorie bekannt. Um die Atom- und Elementarteilchenhypothese, die Mechanik und all die anderen Theorien und Modelle der klassischen Physik gegen experimentelle Evidenz halten zu können, arrangiert sie sich mit dem Welle/Quanten-Paradoxon und verzichtet grundsätzlich auf widerspruchsfreie physikalische Modelle der Realität.

Die Stagnation und Krise der gegenwärtigen theoretischen Physik geht also direkt auf die quantenmechanische Interpretation des Jahres 1927 zurück. Sie wird zum einen durch das unbegründete Festhalten an der Atom- und Elementarteilchenhypothese verursacht (die noch heute als nützlich und richtig gilt, auch in Feldtheorien), zum anderen durch den proklamierten Erkenntnisverzicht der quantenmechanischen Interpretation - einer für die Naturwissenschaften äusserst befremdlichen Konvention, die seit 1927 von der überwältigenden Mehrheit der Physiker ohne jeden Widerstand (!) hingenommen wird. 

Aufgrund der tiefen konzeptionellen Probleme der modernen Physik, der sich viele Physiker überhaupt nicht bewusst sind, ist es für Physiker und Chemiker, aber auch für Biologen von vitalem Interesse, sich die Entstehung ihrer wichtigsten Konzepte anhand von Originalbeiträgen noch einmal vor Augen zu führen und im Lichte moderner Erkenntnisse kritisch und kreativ zu hinterfragen. Als Beispiel wird hier Avogadros Hypothese im Original vorgestellt. Das trifft ebenso auf Maxwells Arbeiten zur kinetischen Wärmetheorie, zur Dynamik des elektromagnetischen Feldes und auf Einsteins Lichtquantenhypothese zu. Gerade im Zusammenhang der beiden letzten Theorien wird deutlich, dass Einstein mit der Quantenhypothese des Lichts eine noch unbekannte Struktur des elektromagnetischen Feldes postuliert hatte, die ähnlich wie in der Molekulartheorie der Materie aus qualitativ ganzheitlichen Elementen bestehen sollte. Diese Elementarstrukturen des elektromagnetischen Feldes, Lichtquanten genannt, müssten allerdings sowohl ein Ganzes, aber auch teilbar sein - ein Modellbauproblem, dass selbst Einstein nicht lösen konnte. Eine solche Beschaffenheit lässt sich eben weder mit dem Körperbegriff der Mechanik, noch mit der Atom- und Elementarteilchenhypothese illustrieren, geschweige denn verstehen.

Wenn die Atom- und Elementarteilchenhypothese am Doppelspalt experimentell scheitert und physikalisch durch ganzheitliche Feldteilungs- und Verschmelzungsprozesse ersetzt werden muss, müssen solche Prozesse nicht nur die Beschaffenheit von Feldern, sondern auch von Materie charakterisieren. Und so ist es auch, wie Avogadros Originalhypothese zeigt. Avogadro hatte 1811, nur ein Jahr nach Erscheinen der Daltonschen Atomhypothese, einen wesentlichen Mangel in Daltons Atomkonzept bemerkt - es war mit dem Experiment nicht verträglich. Avogadro hatte erkannt, dass sich Daltons Atome während chemischer Reaktionen teilen müssen, um der experimentell ermittelten Volumengleichung Gay-Lussacs genügen zu können. Da das dem Atombegriff widerspricht, definierte Avogadro die für die chemischen Reaktionen relevanten Elementareinheiten der gasförmigen Materie als Moleküle (Masse-Einheiten), die nun über die notwendige physikalische Eigenschaft verfügen, sich während chemischer Reaktionen teilen zu können. Diese Teilungshypothese von Materiestrukturen gleich welcher Art war die eigentliche geniale und experimentell zwingend begründete Erkenntnis Avogadros. Sie schlägt sich in der Hypothese nieder, dass Gase beliebiger Art bei gleichem Volumen, gleicher Temperatur und gleichem Druck aus der gleichen Anzahl von Molekülen bestehen. Diese Erkenntnis - oder heuristische Vorstellung - bildet bis heute die wichtigste Grundlage der physikalischen Chemie, der Molekulartheorie und der Thermodynamik. Sie wird allerdings noch immer mechanistisch und im Sinne der Atomhypothese interpretiert; deshalb wird auch kaum problematisiert, dass Avogadros Hypothese ebenso impliziert, dass die Zahl der substanzbildenden (konstituierenden) Moleküle auch volumen-, druck- und temperaturabhängig sein könnte und nicht von stofflichen Substanzhypothesen abhängen kann, also auch für Feldtheorien gelten muss. Das Wesentliche an dieser Hypothese ist also der Teilungsprozess qualitativ ganzheitlicher Massen- und Volumeneinheiten, der experimentell sehr scharfsinnig begründet und vollkommen unabhängig von der Atomhypothese ist. Dieser Teilungsprozess widerspricht dem Atomkonzept; deshalb kommt der Atombegriff bei Avogadro auch nicht vor (das Wort "Atom" taucht nur einmal in der deutschen Übersetzung auf und erweist sich als Flüchtigkeitsfehler des Übersetzers).

Avogadro zeigt, dass erst ein solcher Teilungs- und Verdopplungsprozess ein quantitatives Verständnis der ansonsten einem Naturwunder gleichenden einfachen ganzzahligen Volumenproportionen von Gasreaktionen ermöglicht. Avogadro versucht bereits, diesen Teilungsprozess mit der mechanischen Vorstellung zu illustrieren, dass sich die konstituierenden, normalerweise ganzheitlich operierenden Moleküle aus „Elementarmolekülen“ zusammensetzen, in die sie allerdings erst während der chemischen Reaktion zerfallen. Cannizzaro setzt diese imaginären Elementarmoleküle 1860 konzeptionell mit Daltons Atomen gleich, so dass Avogadros Moleküle nun als mechanistische Doppelatome und die Molekültheorie und Daltons Atomhypothese kompatibel erscheinen.

Dass die Teilungsfähigkeit der Moleküle auf eine Präkomposition zurückzuführen sei, war allerdings schon bei Avogadro nur eine ad-hoc-Annahme, die den Teilungsprozess nur plausibler machen sollte, auch für ihn selbst. Die Atomhypothese lässt sich aus den Volumenproportionen der chemischen Reaktion weder ableiten, noch ist sie zur Erklärung des Molekülteilungsprozesses notwendig. Vorstellbar ist ebenso, dass Moleküle durch ganzheitliche Teilungsprozesse zugrundeliegender Materiestrukturen entstehen, die dann eben nicht mehr als Atome, sondern nur noch als molekulare Zellen verstanden werden können. Das heisst, wir können ein ganzheitliches, homogenes, nicht vorstrukturiertes Molekül als eine physikalische Einheit betrachten, die sich ganzheitlich teilen kann - genau so, wie sich eine ursprünglich homogene biologische Zelle teilen kann und erst dadurch eine zellulare und verzweigte Struktur ausbildet. Wir haben es bei der chemischen Bindung des Moleküls dann nicht mit additiv zusammengesetzten Atomen, sondern mit einer molekularen Zellteilung  zu tun. Avogadros Elementarmoleküle oder Cannizzaros Atome sind dann nicht die Primärkomponenten des Moleküls, sondern Sekundärprodukte der ganzheitlichen molekularen Teilung. Diese Interpretation ist mit der quantenmechanischen Molekülorbitaltheorie von Friedrich Hund und Robert Mulliken übrigens sehr gut vereinbar. Sie entwickelten bereits 1932 ähnliche, in diese Richtung weisende Vorstellungen, die durch Spektraldaten experimentell begründet waren. Ein interessantes Beispiel findet sich hier (Text in englisch).

Avogadro weist darauf hin, dass seine Massenbestimmungen mit Daltons Konzept der multiplen Proportionen vereinbar sind, wenn man das Teilungsprinzip zugrundelegt. Die Bedeutung der Avogadroschen Teilung liegt aber noch tiefer: Aufgrund des Scheiterns des Körperbegriffs der Mechanik und der Atomhypothese in den Doppelspalt- und Interferenzexperienten der modernen Physik sind ganzheitliche Teilungs- und Verschmelzungsprozesse zwingend notwendig, um die Beschaffenheit von Materie und Feldern physikalisch widerspruchsfrei verstehen und modellieren zu können. Der ganzheitliche Teilungsprozess stellt dann ein experimentell bereits mehrfach bestätigtes physikalisches Prinzip dar - in der Physik, Chemie und Biologie - und lässt sich demzufolge als universelles Grundprinzip der Strukturbildung in der Natur verstehen. Das führt direkt zu einer universellen Feldtheorie.


Mehr dazu in meinem neuen Buch (englisch, aktualisierte deutsche Neuauflage folgt später):

Quantum Top Secret - The Solution of the Quantum Enigma

The Dramatic Downfall of the Atomic World View. Call for a Revolution in Science

To be published in September 2019. The corresponding chapter and further reading samples will soon be published online on this website. Criticism, comments and hints are very welcome. Pre-order your book here: